Abzweigung von Kindergeld bei mangelnder Unterhaltsbedürftigkeit des Kindes

Hintergrund: Gesetzliche Regelung
Nach § 74 Abs. 1 Satz 1 EStG i.d.F. v. 8.10.2009 kann das für ein Kind festgesetzte Kindergeld an das Kind ausgezahlt werden, wenn der Kindergeldberechtigte diesem gegenüber seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht nachkommt. Dies gilt auch, wenn der Kindergeldberechtigte mangels Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtig ist oder nur Unterhalt in Höhe eines Betrags zu leisten braucht, der geringer ist als das für die Auszahlung in Betracht kommende Kindergeld (§ 74 Abs. 1 Satz 3 EStG).
Sachverhalt: Auszahlung von Kindergeld an das nicht unterhaltsbedürftige Kind
Die Klägerin erhielt unter anderem für ihren in 2000 geborenen Sohn D Kindergeld. Auf Antrag von D wurde das Kindergeld ab dem 1.4.2021 an diesen ausgezahlt.
Hiergegen wandte sich die Klägerin mit dem Hinweis, dass D im Rahmen seines dualen Studiums eine monatliche Bruttovergütung sowie ein monatliches steuerfreies Stipendium erhalte. Des Weiteren verfüge D über ein zweckgebundenes Vermögen, das ihm für Ausbildungszwecke zur Verfügung gestellt worden sei.
Entscheidung: Abzweigungsbescheid ist aufzuheben
Die Revision der Klägerin ist begründet.
§ 74 Abs. 1 Satz 1 EStG kommt nicht zur Anwendung
Die Klägerin ist D gegenüber nicht unterhaltspflichtig. Insoweit liegt eine Verletzung der gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht vor. Die fehlende Unterhaltspflicht resultiert aus der fehlenden Unterhaltsbedürftigkeit des Beigeladenen und nicht aus der mangelnden Leistungsfähigkeit der Klägerin. Aufgrund der bezogenen Ausbildungsvergütung und des Stipendiums war D nicht unterhaltsbedürftig.
Kein Fall des § 74 Abs. 1 Satz 3 Alt. 2 EStG
Auch diese Vorschrift ist nicht anwendbar. Sie setzt ebenfalls eine Unterhaltsverpflichtung voraus, die nur wegen fehlender voller oder teilweiser Leistungsfähigkeit des Kindergeldberechtigten nicht erfüllt werden kann. Die Anwendung der Vorschrift erfordert, dass die Unterhaltsverpflichtung „mangels Leistungsfähigkeit“ nicht besteht. Sie ist nicht anwendbar, wenn die Unterhaltsverpflichtung mangels Bedürftigkeit des Kindes entfällt.
Fehlen einer planwidrigen Gesetzeslücke zur Anwendung des § 74 Abs. 1 EStG
Es fehlt auch an einer für einen Analogieschluss erforderlichen planwidrigen Gesetzeslücke. Aus den Gesetzesmaterialien zu § 74 Abs. 1 EStG (BT-Drs. 13/1558, S. 162) ergibt sich, dass die Regelung des § 74 Abs. 1 EStG „die Auszahlung des Kindergeldes bei Verletzung der Unterhaltspflicht“ regeln soll. Soweit in Satz 2 der Gesetzesbegründung darauf hingewiesen wird, dass die Regelung dem § 48 SGB I entspreche, kann dies nur im Zusammenhang mit dem ersten Satz gesehen werden. Bei Verletzung der Unterhaltspflicht entspricht die Regelung des § 74 Abs. 1 EStG der Regelung des § 48 Abs. 1 SGB I. Hingegen wurde in § 74 EStG keine dem § 48 Abs. 2 SGB I vergleichbare Regelung aufgenommen, die einen Auszahlungsanspruch auch dann begründet, wenn der Leistungsberechtigte mangels Bedürftigkeit des Kindes kraft Gesetzes nicht unterhaltspflichtig ist. Vielmehr beruht § 74 Abs. 1 EStG auf der Neuregelung der einkommensteuerrechtlichen Kindergeldvorschriften durch das Jahressteuergesetz 1996. Die Aufnahme einer dem § 48 Abs. 2 SGB I vergleichbaren Regelung war zu diesem Zeitpunkt nicht erforderlich, da ein Kindergeldanspruch nur bestand, wenn das volljährige Kind nicht über eigene zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmte oder geeignete Einkünfte und Bezüge verfügte, die den in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG a.F. geregelten Jahresgrenzbetrag überschritten. Bei Überschreitung des Jahresgrenzbetrags war das Existenzminimum des Kindes durch eigene Einkünfte und Bezüge gesichert.
Zudem wurde § 74 EStG nach der Abschaffung der Grenzbetragsregelung durch das Steuervereinfachungsgesetz vom 1.11.2011 (BGBl I 2011, 2131) nicht geändert, obwohl in anderen Bereichen notwendige Folgeänderungen vorgenommen wurden. Dies spricht ebenfalls dafür, dass der Gesetzgeber an der Grundkonzeption, eine Abzweigung des Kindergeldes an das volljährige Kind nur für den Fall der Unterhaltsbedürftigkeit vorzusehen, auch nach dem Wegfall der Grenzbetragsregelung festhalten wollte. Zudem hätte es der Tatbestandsvoraussetzung der Verletzung der Unterhaltspflicht in § 74 Abs. 1 EStG gar nicht bedurft, wenn bei mangelnden Unterhaltszahlungen stets eine Abzweigung in Betracht käme.
§ 74 Abs. 1 EStG ist auch gemessen an seinem Zweck nicht ergänzungsbedürftig
§ 74 EStG bestimmt in Sonderfällen einen abweichenden Auszahlungsempfänger. Der darin liegende Eingriff in den Rechtsanspruch des Kindergeldberechtigten ist gerechtfertigt, weil das Kindergeld vorrangig zur Sicherung des Existenzminimums des Kindes zu verwenden ist. Kommt der Kindergeldberechtigte seiner gesetzlichen Unterhaltsverpflichtung gegenüber seinem Kind nicht nach, sondern verwendet er das Kindergeld für andere Zwecke, ermöglicht § 74 Abs. 1 EStG unter Vermeidung zivilgerichtlicher Verfahren die Auszahlung an das unterhaltsberechtigte und -bedürftige Kind. Ist hingegen das Existenzminimum des Kindes durch dessen eigene Einkünfte und Bezüge ausreichend gesichert, ist eine Abweichung von der grundsätzlichen gesetzlichen Zuordnungsentscheidung, das Kindergeld beim Kindergeldberechtigten zu belassen, nicht zwingend erforderlich.
Der in der Sicherung des Kinderexistenzminimums liegende Zweck tritt bei einem nicht unterhaltsbedürftigen Kind in den Hintergrund. Entscheidend ist dann nach den gesetzlichen Wertungen der weitere ausdrücklich normierte Zweck, die Familie zu fördern. Das Kindergeld kann in diesem Fall bei dem vorrangig berechtigten Elternteil verbleiben und für andere aus der Elternpflicht hervorgehende Kosten eingesetzt werden.
Vergleich mit sozial- und zivilrechtlichen Zuordnungsentscheidungen
Auch ein Vergleich mit den sozial- und zivilrechtlichen Zuordnungsentscheidungen in Bezug auf das Kindergeld bestätigt, dass es dem Willen des Gesetzgebers nicht zuwiderläuft, das Kindergeld dem Kindergeldberechtigten zu belassen. Das Sozialrecht geht in vergleichbaren Fällen ebenfalls von einer Verwendung des Kindergeldes für den elterlichen Lebensbedarf aus. Das Kindergeld ist als Einkommen des Kindergeldberechtigten anzusehen, soweit es nicht zur Deckung des Kindesbedarfs erforderlich ist (vgl. u.a. § 11 Abs. 1 Satz 4 SGB II).
Das Kindergeld wird auch im Zivilrecht als Einkommen des Beziehers angesehen, soweit es nicht zur Deckung des notwendigen Lebensunterhalts (Existenzminimum) des Kindes benötigt wird (vgl. BGH v. 14.12.2016, XII ZB 207/15, NJW 2017, 962). Ferner wird bei fehlender Bedürftigkeit des Kindes in der zivilrechtlichen Rechtsprechung teilweise ein unterhaltsrechtlicher Anspruch auf Auskehrung des von den Eltern bezogenen Kindergeldes verneint. Wenn der Unterhaltsbedarf des Kindes bereits durch eigenes Einkommen vollständig gedeckt wird, so ist die Verwendung des Kindergeldes nach § 1612b Abs. 1 BGB für dessen Bedarf nicht erforderlich (OLG Braunschweig v. 27.4.2023, 1 UF 13/23, NJW 2023, 3026).
; veröffentlicht am 17.4.2025.
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