Leitsatz
1. Kindergeld, das für ein volljähriges Kind zugunsten eines Elternteils festgesetzt worden ist, kann nicht an das Kind ausgezahlt werden, wenn das Kind aufgrund eigener Einkünfte oder Bezüge nicht unterhaltsbedürftig ist.
2. Eine analoge Anwendung des § 74 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes kommt bei fehlender Unterhaltsbedürftigkeit des Kindes mangels planwidriger Gesetzeslücke nicht in Betracht.
Normenkette
EStG § 74 Abs. 1 Satz 1 und 3; BGB § 1602, § 1612b; SGB I § 48 Abs. 1 und Abs. 2
Sachverhalt
Die Klägerin ist die Mutter eines volljährigen Sohnes S, der sich in einem dualen Studium befand. S bezog im Rahmen dieses dualen Studiums ein Gehalt und daneben ein steuerfreies Stipendium. Aufgrund der Höhe dieser Einkünfte und Bezüge war S nicht unterhaltsbedürftig. Nachdem das der Klägerin für S gewährte Kindergeld zunächst an sie ausgezahlt wurde, beantragte S die Auszahlung an sich selbst. Die Familienkasse entsprach diesem Antrag und zahlte das Kindergeld ab April 2021 an S aus. Die dagegen gerichtete Klage wies das FG (FG München vom 14.03.2024, 10 K 508/22, -Index 16249958) ab.
Entscheidung
Der BFH hob das FG-Urteil und den Abzweigungsbescheid der Familienkasse auf.
Hinweis
1. Das Kindergeld wird im Normalfall nicht nur zugunsten des nach § 63 Abs. 1 Satz 1 EStG kindergeldberechtigten (Pflege-, Stief-, Groß-)Elternteils festgesetzt, sondern auch an diesen ausgezahlt (§ 70 Abs. 1 Satz 1 EStG). Ausnahmsweise sieht § 74 Abs. 1 EStG die Möglichkeit vor, dass das zugunsten des betreffenden Elternteils festgesetzte Kindergeld an das Kind selbst oder an die Person oder Stelle ausgezahlt wird, die dem Kind Unterhalt gewährt (sog. Abzweigung).
2. Eine solche Abzweigungslage sieht das Gesetz in drei Fällen als gegeben an, nämlich wenn
- der Kindergeldberechtigte dem Kind gegenüber seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht nachkommt (§74 Abs. 1 Satz 1 EStG),
- der Kindergeldberechtigte mangels Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtig ist (§ 74 Abs. 1 Satz 3 Alt. 1 EStG) oder
- der Kindergeldberechtigte mangels Leistungsfähigkeit nur Unterhalt in Höhe eines Betrages zu leisten braucht, der geringer ist als das für die Auszahlung in Betracht kommende Kindergeld (§ 74 Abs. 1Satz 3 Alt. 2 EStG).
Liegt eine Abzweigungslage vor, hat die Familienkasse eine Ermessensentscheidung über die Abzweigung zu treffen.
3. Den Fall, dass das Kind vom Kindergeldberechtigten keinen Unterhalt erhält, weil es aufgrund ausreichender eigener Einkünfte und Bezüge nicht unterhaltsbedürftig ist, nennt das Gesetz nicht. Nach der Besprechungsentscheidung besteht für diesen Fall auch keine Veranlassung für eine analoge Anwendung der Abzweigungsregelungen. Sowohl die Analogie als auch die teleologische Extension einer Norm setzen eine planwidrige Regelungslücke und eine vergleichbare Interessenlage voraus.
Die der Einführung des § 74 Abs. 1 EStG zugrundeliegenden Gesetzesmaterialien zum JStG 1996 deuten darauf hin, dass der Gesetzgeber bei Überführung des Kindergeldrechts vom Sozial- in das Einkommensteuerrecht eine Parallelvorschrift zu § 48 Abs. 1 SGB I schaffen wollte. Hingegen fehlen Anzeichen dafür, dass eine dem § 48 Abs. 2 SGB I vergleichbare Regelung aufgenommen werden sollte, die einen Auszahlungsanspruch auch dann begründet, wenn der Leistungsberechtigte mangels Bedürftigkeit des Kindes kraft Gesetzes nicht unterhaltspflichtig ist. Nach damaliger Rechtslage verhinderte im Regelfall bereits die Einkünfte- und Bezügegrenze des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG, dass im Fall der mangelnden Unterhaltsbedürftigkeit des Kindes Kindergeld zugunsten der Eltern festgesetzt wird. Folglich ergab sich auch kein Bedürfnis für eine Abzweigung. Bei Abschaffung der Einkünfte- und Bezügegrenze durch das StVereinfG 2011 war dem Gesetzgeber zwar bewusst, dass Kindergeld vereinzelt auch im Fall mangelnder Bedürftigkeit festgesetzt werden wird. Hinweise darauf, dass der Gesetzgeber darin einen Anlass für einen zusätzlichen Abzweigungsfall gesehen hätte, fehlen aber.
Auch vom Sinn und Zweck her, hat der BFH keinen Bedarf für eine Analogie gesehen. Die Abzweigung dient der Existenzsicherung des Kindes. Ist die Existenz schon durch eigene Einkünfte und Bezüge gesichert, ergibt sich aus diesem Gesetzeszweck kein Grund für eine Ausdehnung des Anwendungsbereichs der Abzweigungsnorm. Auch das Sozial- und Zivilrecht ordnen das Kindergeld bei mangelnder Bedürftigkeit des Kindes den Eltern zu.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 20.2.2025 – IIIR10/24