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Entscheidungsstichwort (Thema)
Billigkeitserlass bei Kindergeldr眉ckforderung. kein Eingriff in das Recht auf Existenzsicherung
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Leitsatz (NV)
Die R眉ckforderung von Kindergeld wegen der Verletzung von Mitwirkungspflichten stellt keine Sanktion i.S. der Rechtsprechung des BVerfG dar (vgl. BVerfG-Urteil vom 05.11.2019 - 1 BvL 7/16, BGBl I 2019, 2046, Rz 130). Es fehlt insoweit bereits am Eingriff in das Recht auf Existenzsicherung.
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Normenkette
AO 搂 227
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Verfahrensgang
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Tenor
Die Revision der Kl盲gerin gegen das Urteil des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 24.01.2019 - 4 K 9126/16 wird als unbegr眉ndet zur眉ckgewiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens hat die Kl盲gerin zu tragen.
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Tatbestand
Rz. 1
I. Die Beteiligten streiten 眉ber den Billigkeitserlass einer Kindergeldr眉ckforderung gem盲脽 搂听227 der Abgabenordnung (AO) f眉r den Zeitraum von September 2013 bis einschlie脽lich Juli 2014 (Streitzeitraum).
Rz. 2
Die Kl盲gerin und Revisionskl盲gerin (Kl盲gerin) ist die Mutter der im M盲rz 1994 geborenen Tochter J. Nach Abschluss ihrer schulischen Laufbahn begann J eine Ausbildung zur B眉rokauffrau, die sie im November 2011 unterbrach. Am 13.03.2012 wurde der erste Sohn der J geboren. Die Mutterschutzfrist f眉r J lief bis Mai 2012. Mit Wirkung zum 15.10.2012 wurde der Ausbildungsvertrag der J aufgehoben. Bis zum 12.05.2013 nahm J Elternzeit in Anspruch und lebte mit ihrem Sohn bis August 2013 bei der Kl盲gerin. Ab September 2013 zog J in eine eigene Wohnung. Am 10.06.2014 wurde der zweite Sohn der J geboren. Die Mutterschutzfrist f眉r J lief bis August 2014, danach befand sie sich in Elternzeit.
Rz. 3
Im Mai 2012 hatte die Kl盲gerin u.a. f眉r J Kindergeld beantragt und dabei angegeben, dass sich J in der Zeit vom 15.08.2011 bis 14.08.2014 in Schul- oder Berufsausbildung befinde bzw. befinden werde. Die Kl盲gerin unterzeichnete mit ihrer eigenh盲ndigen Unterschrift folgenden Text:
"Ich versichere, dass ich alle Angaben wahrheitsgetreu gemacht habe. Mir ist bekannt, dass ich jede 脛nderung, die f眉r den Anspruch auf Kindergeld von Bedeutung ist, unverz眉glich der Familienkasse mitzuteilen habe. Das Merkblatt 眉ber Kindergeld habe ich bereits erhalten und von seinem Inhalt Kenntnis genommen."
Aus den Merkbl盲ttern zum Kindergeld f眉r die Jahre 2012 und 2013 geht hervor, dass die Familienkasse unverz眉glich zu benachrichtigen ist, wenn ein Kind den Haushalt des Kindergeldberechtigten verl盲sst, ein 眉ber 18听Jahre altes Kind seine Schul- oder Berufsausbildung wechselt, beendet oder unterbricht oder schwanger ist und die Mutterschutzfrist beginnt. Mit Bescheid vom 01.06.2012 setzte die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) Kindergeld ab April 2012 gegen眉ber der Kl盲gerin f眉r J in der gesetzlichen H枚he fest.
Rz. 4
Seit dem 01.09.2013 bezog J Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB听II). Bei der Berechnung des zu ber眉cksichtigenden monatlichen Einkommens wurde das Kindergeld ber眉cksichtigt.
Rz. 5
Auf R眉ckfrage vom 09.07.2014 teilte die Kl盲gerin der Familienkasse zun盲chst mit, dass die Tochter zwei Kinder zur Welt gebracht habe und sich in Elternzeit befunden habe, sp盲ter, dass sie die Ausbildung bereits zum 15.10.2012 beendet habe. Mit Bescheid vom 06.10.2014 hob die Familienkasse gegen眉ber der Kl盲gerin die Kindergeldfestsetzung f眉r J von Juni 2012 bis Juli 2014 gem盲脽 搂听70 Abs.听2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) auf und forderte das 眉berzahlte Kindergeld zur眉ck. Zur Begr眉ndung f眉hrte sie aus, dass die besonderen Anspruchsvoraussetzungen des 搂听32 Abs.听4 EStG nicht mehr erf眉llt gewesen seien. Der Einspruch hiergegen hatte keinen Erfolg. W盲hrend des anschlie脽enden Klageverfahrens erlie脽 die Familienkasse einen 脛nderungsbescheid, durch den die Kindergeldfestsetzung nur noch f眉r die Zeit von November 2012 bis Juli 2014 aufgehoben und das Kindergeld insoweit zur眉ckgefordert wurde. Der Rechtsstreit endete mit einer Erledigung der Hauptsache.
Rz. 6
Mit Schreiben vom 06.11.2015 beantragte die Kl盲gerin den Erlass der Kindergeldr眉ckforderung aus Billigkeitsgr眉nden, soweit diese den Zeitraum September 2013 bis Juli 2014 betraf. Ein Billigkeitserlass sei gerechtfertigt, da das Kindergeld bei der Berechnung der H枚he der Leistungen nach dem SBG听II als Einkommen angesetzt worden sei und eine nachtr盲gliche Korrektur dieser Leistungen nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nicht m枚glich sei.
Rz. 7
Die Familienkasse lehnte den Erlassantrag mit Bescheid vom 10.05.2016 ab. Einspruch und Klage hiergegen hatten keinen Erfolg. Das Urteil des Finanzgerichts (FG) ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2019, 1734 ver枚ffentlicht.
Rz. 8
Mit der Revision r眉gt die Kl盲gerin die Verletzung von Bundesrecht (搂听118 Abs.听1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Sie ist der Ansicht, das FG habe die unzureichende Zusammenarbeit der Beh枚rden im Dreiecksverh盲ltnis zwischen Leistungsempf盲nger, Familienkasse und Sozialleistungstr盲ger entgegen dem Rechtsgedanken des 搂听86 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch nicht ausreichend ber眉cksichtigt.
Rz. 9
Die Kl盲gerin beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 10.05.2016 sowie der Einspruchsentscheidung vom 01.07.2016 die Familienkasse zu verpflichten, die R眉ckforderung von Kindergeld gegen die Kl盲gerin f眉r die Zeit von September 2013 bis Juli 2014 zu erlassen.
Rz. 10
Die Familienkasse beantragt, die Revision zur眉ckzuweisen.
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Rz. 11
II. Die Revision der Kl盲gerin ist unbegr眉ndet und daher zur眉ckzuweisen (搂听126 Abs.听2 FGO). Das FG hat zutreffend entschieden, dass die Ablehnung des beantragten Billigkeitserlasses durch die Familienkasse nicht zu beanstanden ist.
Rz. 12
1. Die Entscheidung 眉ber den Erlass ist eine Ermessensentscheidung der Beh枚rde (grundlegend: Beschluss des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtsh枚fe des Bundes vom 19.10.1971听- GmS-OGB听3/70, BFHE 105, 101, BStBl II 1972, 603). Dem folgt die st盲ndige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) zu 搂听227 AO (z.B. BFH-Urteile vom 18.09.2018听- XI听R听36/16, BFHE 262, 297, BStBl II 2019, 87, Rz听27, und vom 13.09.2018听- III听R听19/17, BFHE 262, 483, BStBl II 2019, 187, Rz听13). Im finanzgerichtlichen Verfahren kann die beh枚rdliche Ermessensentscheidung nach 搂听102 FGO nur daraufhin 眉berpr眉ft werden, ob die Grenzen der Ermessensaus眉bung eingehalten worden sind (Gr盲ber/Stapperfend, Finanzgerichtsordnung, 9.听Aufl., 搂听102 Rz听15, m.w.N.).
Rz. 13
2. Eine Unbilligkeit aus sachlichen Gr眉nden i.S. des 搂听227 AO ist anzunehmen, wenn die Geltendmachung eines Anspruchs aus dem Steuerschuldverh盲ltnis im Einzelfall zwar dem Wortlaut einer Vorschrift entspricht, aber nach dem Zweck des zugrunde liegenden Gesetzes nicht (mehr) zu rechtfertigen ist oder dessen Wertungen zuwiderl盲uft (sog. Gesetzes眉berhang, vgl. Senatsurteile in BFHE 262, 483, BStBl II 2019, 187, Rz听13; vom 13.09.2018听- III听R听48/17, BFHE 262, 488, BStBl II 2019, 189, Rz听13, und vom 20.02.2019听- III听R听28/18, BFH/NV 2019, 825, Rz听12, jeweils m.w.N.).
Rz. 14
3. Das FG ging in der Vorentscheidung zu Recht davon aus, dass bei einer Mitwirkungspflichtverletzung der Kl盲gerin kein Anspruch auf Billigkeitserlass gem盲脽 搂听227 AO besteht.
Rz. 15
a) Allein der Umstand, dass das Kindergeld im Streitfall auf die von J bezogenen Sozialleistungen angerechnet wurde, verpflichtet die Familienkasse nicht zu einem Billigkeitserlass. Die Anrechnung kann nach der Rechtsprechung der Sozialgerichte nicht r眉ckabgewickelt werden, weil es allein auf den tats盲chlichen Zufluss des Kindergeldes beim Sozialleistungsempf盲nger ankommt und die nachtr盲gliche Gew盲hrung von Sozialleistungen ausgeschlossen ist. Es fehlt zwar eine gesetzliche Regelung der system眉bergreifenden R眉ckabwicklung von zu Unrecht gew盲hrtem Kindergeld, das auf Sozialleistungen angerechnet wurde. Dies ist jedoch noch kein Grund, in einschl盲gigen F盲llen einen Billigkeitserlass als zwingend anzusehen (Senatsurteile in BFHE 262, 483, BStBl II 2019, 187, Rz听17; in BFHE 262, 488, BStBl II 2019, 189, Rz听17; vom 08.11.2018听- III听R听31/17, BFH/NV 2019, 557, Rz听16, und in BFH/NV 2019, 825, Rz听14, jeweils m.w.N.). Ein Anspruch auf Billigkeitserlass kann in Betracht kommen, wenn der Kindergeldberechtigte seiner Mitwirkungspflicht nachgekommen ist, der R眉ckforderungsanspruch aber durch ein Verschulden oder eine fehlerhafte Arbeitsweise der Beh枚rden entstanden ist (vgl. Senatsurteile in BFHE 262, 488, BStBl II 2019, 189, Rz听16, und in BFHE 262, 483, BStBl II 2019, 187, Rz听21). Diese Sichtweise entspricht auch der sozialgerichtlichen Rechtsprechung (vgl. BSG-Urteil vom 23.08.2011听- B听14听AS听165/10听R, Die Sozialgerichtsbarkeit 2012, 470, Rz听26).
Rz. 16
b) Dem steht auch nicht das Sozialstaatsprinzip (Art.听20 Abs.听1 des Grundgesetzes) entgegen. Ein Erlass ist nicht von Verfassungs wegen geboten. Denn die R眉ckforderung beruht im Streitfall nicht auf einer unzureichenden Ausgestaltung einer gerechten Sozialordnung, sondern auf der Mitwirkungspflichtverletzung der Kl盲gerin (Senatsurteil in BFH/NV 2019, 557, Rz听19, m.w.N.). Dar眉ber hinaus stellt sie keine Sanktion i.S. der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) dar (vgl. BVerfG-Urteil vom 05.11.2019听- 1听BvL听7/16, BGBl I 2019, 2046, Rz听130). Es fehlt insoweit bereits am Eingriff in das Recht auf Existenzsicherung.
Rz. 17
4. Die Entscheidung des FG entspricht diesen Grunds盲tzen. Das FG hat die Klageabweisung rechtsfehlerfrei damit begr眉ndet, dass bei der W眉rdigung und Abw盲gung der Vers盲umnisse der Kl盲gerin kein Anspruch auf Erlass der Kindergeldr眉ckforderung besteht. Denn die Kl盲gerin hat nach den Feststellungen des FG die Familienkasse nicht 眉ber die Beendigung der Ausbildung der Tochter und 眉ber deren Schwangerschaft informiert und erst nach Aufforderung die f眉r die --richtige-- Kindergeldfestsetzung ma脽geblichen Umst盲nde mitgeteilt; demgegen眉ber hat sich die Familienkasse an die gesetzlichen Vorgaben gehalten.
Rz. 18
5. Die Kostenentscheidung folgt aus 搂听143 Abs.听1, 搂听135 Abs.听2 FGO.
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Fundstellen
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BFH/NV 2020, 926 |